Ein elfjähriger Junge verschwindet aus einem Ferienlager direkt an der deutsch-niederländischen Grenze. Wenige Stunden später wird er tot aufgefunden – auch 20 Jahre nach der Tat bleibt der Fall ungelöst. Doch eine neue Möglichkeit gibt den Ermittlern nun Hoffnung.
Es ist der größte DNA-Test in der Geschichte der Niederlande. Am 24. Februar 2018 öffnete die Staatsanwaltschaft Maastricht sieben Abgabestellen im Grenzgebiet zu Deutschland. Insgesamt 21.500 Männer erhielten die schriftliche Einladung, eine Speichelprobe abzugeben – es ist der letzte Versuch, einen alten Kriminalfall endlich lösen zu können.
Es geht um ein Verbrechen, das die ganze Region schon seit 20 Jahren in Atem hält: Den mutmaßlichen Mord an dem damals elfjährigen Nicky Verstappen im Jahr 1998, der nie aufgeklärt werden konnte. Man fand den Jungen in der Brunssummer Heide – einem Erholungs- und Naturschutzgebiet direkt an der Grenze. Nur eine alte Fernfahrerstraße namens „Grensweg“ trennt die Heide von der deutschen Seite.
Randnotizen ist ein Projekt des Jahrgangs 2016 der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Wir haben einen Blick an die Grenzen Deutschlands geworfen um zu erfahren, was unsere Nachbarn auf der anderen Seite umtreibt und bewegt. Aus jeder unserer Reisen ist eine Geschichte entstanden.
Zwei andere Mordfälle in den Niederlanden aus den Jahren 1992 und 1999 an jungen Frauen haben sich durch solche groß angelegten DNA-Untersuchungen im vergangenen Jahr geklärt. Nun will die Polizei den Fall Verstappen lösen, indem sie ausgewählte Männer im Umkreis von fünf Kilometern um den Tatort zum DNA-Test bittet. 20 Jahre der Ungewissheit, Beschuldigungen und Ermittlungen könnten damit zu Ende gehen.
Rückblende: Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen verbringt im August 1998 mit ihren Betreuern den heißen Sommer im Zeltlager auf dem Zeltplatz „De Heikop“. Eines der Kinder ist Nicky Verstappen aus dem nahegelegenen Heidebloem. Am dritten Morgen der Jugendfreizeit ist er aus seinem Zelt verschwunden. Die Polizei wartet 24 Stunden, bevor die Beamten schließlich mit Suchtrupps die weite Heide durchforsten. Wenig später finden sie die Leiche des Jungen – versteckt zwischen den Tannen einer Christbaum-Plantage, rund einen Kilometer vom Ferienlager entfernt. Die genaue Todesursache können sie nicht mehr feststellen. Die Leiche hat schon zu lange in der drückenden Augusthitze gelegen.
Claire van Dyck ist damals eine der Journalistinnen vor Ort. Sie berichtet bis heute für die Zeitung DeLimburg über den Fall. Und kritisiert das unkoordinierte Vorgehen der Polizei. Denn die Polizei tappt von Anfang an im Dunkeln. Nach nur zwei Monaten stellt sie die Ermittlungen komplett ein. Die toxikologische Untersuchung liefert nur wenige Befunde: Einige Spuren deuten auf sexuellen Missbrauch hin und möglicherweise auf Tod durch Ersticken – mehr kann die Polizei nicht feststellen.
Im April 1999 nimmt der bekannte Kriminalreporter Peter de Vries den Fall unter die Lupe. Er unterstützt die Familie und geht Verdächtigungen vor allem gegenüber den Betreuern nach. Die Polizei hat keinen der Verantwortlichen des Zeltlagers jemals im Visier. Und das, obwohl auch die Polizei davon ausgeht, dass der Täter sich im Gelände ausgekannt haben muss.
Schließlich ist die Brunssummer Heide 580 Hektar groß – hier gibt es Strauchheiden, Sümpfe, Kiefernwälder, Seen und offene Sandgebiete. Dazwischen immer wieder Wald, permanent überflutet und sumpfig, voller Morast, Pfützen und Treibsand.
Außerdem geht die Polizei davon aus, dass Nicky seinen Mörder wohl gekannt hat und ihm deswegen aus dem Zelt gefolgt sein könnte. Trotzdem verhört sie die Gruppenleiter ausschließlich als Zeugen. Dabei gibt es einige kritische Punkte, wie De Vries und sein Team aufdecken. So stand der Leiter des Lagers, Joos Bartes, in der Vergangenheit schon einige Male unter Verdacht, Kinder sexuell missbraucht zu haben. Er war in den 1950er Jahren Direktor einer Grundschule, wurde jedoch nach Anschuldigungen entlassen und musste eine Haftstrafe absitzen. Dennoch bot man ihm nach seiner Entlassung eine Anstellung im örtlichen Jugendinternat an. Er genießt als Vorstandsmitglied des lokalen Fußballclubs den Respekt der Heidebloemer, hat sogar eine Auszeichnung für lokale Jugendarbeit bekommen. Dass Nickys Familie und Peter de Vries gerade ihn beschuldigten, nimmt man ihnen sehr übel. Immer mehr Heidebloemer wenden sich von der Familie ab, immer weniger sind bereit zu kooperieren.
Im August 2008 gelingt es den Ermittlern schließlich, eine DNA-Spur festzustellen. Was für eine Art von DNA, das hat die Polizei bis heute nicht öffentlich gemacht. Man nimmt erste Proben, etwa von einigen Leitern und Teilnehmern des Ferienlagers, anderen bekannten Urlaubern oder Spaziergängern in der idyllischen Heidelandschaft. Lagerführer Bartes ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren tot. Niemand kann zu dem DNA-Test gezwungen werden, und am Ende geben von den 107 aufgeforderten Männern nur 80 ihren Speichel ab – ein Viertel weigert sich. 2010 wird sogar die Leiche von Bartes ausgegraben, um die Spur abzugleichen – ohne Befund.
2011 erlassen die Niederlande ein Gesetz, das der Familie Verstappen neue Hoffnung gibt: Ab jetzt ist es möglich, DNA-Tests ganz groß aufzuziehen. Die Ermittler suchen nicht mehr nur nach dem Täter selbst, sondern könnten durch DNA-Vergleiche zum Beispiel Verwandte finden – über die sie dem Täter dann auf die Spur kommen wollen.
Die gesuchte Person könnte dabei immer auch von der deutschen Seite kommen. Der Radius von fünf Kilometern umfasst auch deutsches Gebiet. Das Problem: Die niederländische Polizei kann deutsche Staatsbürger nicht zum DNA-Test bitten. Sie ist auf freiwillige Spenden angewiesen. „Wir sind eine europäische Union, aber es gibt viele unterschiedliche rechtliche Regelungen“, sagt Journalistin Claire van Dyck. Die deutsche Bundespolizei bestätigt auf Anfrage: „Die Erstellung eines genetischen Phantombildes ist in der Bundesrepublik derzeit noch nicht gesetzlich zugelassen.“ Eine entsprechende Gesetzesänderungsinitiative befinde sich derzeit zur Entscheidung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages. Für die Untersuchungen der niederländischen Polizei käme sie wohl zu spät.
Bei der DNA-Großfahndung haben am Ende 15.000 von 21.500 aufgerufenen Männern eine Probe abgegeben. Die Polizei ist mit dem Ergebnis zufrieden, auch wenn sie auf eine höhere Beteiligung gehofft hatte. Doch viele Männer machten sich wohl Sorgen, dass ihre Daten gespeichert werden oder sie unter falschen Verdacht geraten könnten. Journalistin Van Dyck betont, dass diese Sorgen unbegründet sind: Die DNA wird nicht unter dem Namen des Spenders, sondern unter einem anonymen Code aufgenommen. Außerdem gibt es klare rechtliche Regelungen, wonach die Daten ausschließlich für diesen Fall verwendet werden und danach gelöscht werden müssen. Es ist nicht zulässig, sie für andere Fälle als Beweise heranzuziehen.
Die 15.000 Proben werden jetzt im Forensischen Institut Den Haag untersucht, jeden Tag etwa 200. Bis zu einem Jahr werden sich die Familie Verstappen, die Ermittler, die Einwohner und Fans der Heide, die Teilnehmer des Ferienlagers und alle anderen Betroffenen noch gedulden müssen. Danach kann die Region vielleicht endlich mit dem Fall abschließen.
Randnotizen ist ein Projekt des Jahrgangs 2016 der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Wir haben einen Blick an die Grenzen Deutschlands geworfen um zu erfahren, was unsere Nachbarn auf der anderen Seite umtreibt und bewegt. Aus jeder unserer Reisen ist eine Geschichte entstanden.
Die Betroffenheit, mit der die Menschen aus Brunssum und der Umgebung über den Fall reden, hat uns besonders berührt. Viel schwieriger war es hingegen mit der Polizei zu sprechen. Dort ist man, im Gegensatz zur deutschen Polizei, sehr kurz angebunden, es gibt keine konkrete Anlaufstelle für öffentliche Anfragen. Mit Informationen – welcher Art auch immer – ist man hier sehr geizig. Vielleicht aus Angst etwas Falsches zu sagen oder jemanden zu verängstigen.
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