Das deutsche Guben und das polnische Gubin waren bis zum Zweiten Weltkrieg eine Stadt, dann trennte sie eine starre Grenze, bis Polen 2007 dem Schengener Abkommen beitrat. Zuerst fürchteten die Deutschen polnische Wirtschaftsflüchtlinge. Inzwischen wirbt Guben um die Polen. Denn die deutsche Seite schrumpft.
„Ja, dit is das Ende der Welt hier, wa?“ sagt der alte Mann an der Bushaltestelle. Vielleicht hat er unseren entsetzten Blick gesehen, auf die menschenleere Straße und die kahlen Werbetafeln ohne Plakate. „Ihr habt Glück.“ Denn am Ende Welt fährt der letzte Bus um 19:33 Uhr.
Die Endhaltestelle der Buslinie 890 hier in Guben, im Landkreis Spree-Neiße in der brandenburgischen Niederlausitz, heißt „Hochhaus“. Fast eine Untertreibung – es reiht sich dort Plattenbau an Plattenbau, ein Erbe der DDR.
Randnotizen ist ein Projekt des Jahrgangs 2016 der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Wir haben einen Blick an die Grenzen Deutschlands geworfen um zu erfahren, was unsere Nachbarn auf der anderen Seite umtreibt und bewegt. Aus jeder unserer Reisen ist eine Geschichte entstanden.
Gubens Bevölkerung schrumpft seit Jahren und der Altersdurchschnitt steigt. Nur die zuziehenden Polen schwächen diesen Trend ab. Sie haben es oft nicht weit, kommen von der anderen Seite der Neiße, dem Fluss, der die Städte trennt. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren Guben und Gubin eine Stadt. Heute liegt der frühere Altstadtkern mit Kirche und Marktplatz auf der polnischen Seite, während der deutsche Teil von Industriebauten geprägt ist.
In den 1980er Jahren lebten im deutschen Guben mehr als 30.000 Menschen. Nach der Wende verließ die arbeitende Mittelschicht die Stadt gen Westen. Inzwischen sind hier nur noch knapp 17.500 Menschen übrig geblieben. Und Guben schrumpft weiter. Die Bertelsmann Stiftung prognostiziert, dass Guben 2030 die Stadt mit der zweitältesten Bevölkerung in ganz Deutschland sein wird.
Martin Reiher, Geschäftsführer der Gubener Sozialwerke und der Gubener Wohnungsgesellschaft, musste deswegen schon 4000 Wohneinheiten abreißen lassen. Seine Hoffnungen ruhen auf den Nachbarn auf der anderen Seite der Neiße. 60 bis 70 Polen ziehen pro Jahr ins deutsche Guben.
Reiher freut sich über die polnische Zuwanderung: Jeder zusätzliche Mieter ist ihm willkommen, weil er den Leerstand nicht noch weiter steigen lässt. Deshalb wirbt die Wohnungsgesellschaft auch um die „Retter” aus Polen. Mit einer Webseite auf Polnisch, Anzeigen in Zeitungen und: mit Zaneta Dang Hong.
Die 25-Jährige spricht fließend Deutsch und Polnisch. Ihre Eltern, die Mutter Polin, der Vater Vietnamese, lernten sich in Gubens Chemiefaserfabrik kennen. Dass die Gubener Wohnungsgesellschaft eine polnischsprachige Mitarbeiterin hat, habe sich schnell rumgesprochen, meint Dang Hong. Obwohl die meisten der polnischen Interessenten Deutsch sprechen, verstehen sie eben Worte wie „Stromzähler” oder „Abschlagsrechnung” nicht.
Der alte Mann an der Bushaltestelle zündet sich eine neue Zigarette an. Polnisch, sagt er, spreche er nicht. „Früher haben wir mal Russisch gelernt, aber das ist lange her.” Doch er geht manchmal rüber, auf die polnische Seite. Er zieht an der Zigarette. „Für Tabak“, sagt der alte Gubener. „Oder mal auf den Markt, für Gemüse. Das ist aber teurer geworden in den letzten Jahren.“
Das polnische Gubin hat 16.900 Einwohner und ist damit fast genauso groß wie Guben. Wer die 30 Meter lange Grenzbrücke über die Neiße überquert, bemerkt gleich die geschäftige Stimmung. Direkt hinter der Grenze baut ein Investor gerade ein Einkaufszentrum mit 11.000 Quadratmeter Fläche, genau da, wo sich vor dem Krieg der Gubener Marktplatz befand.
„Man merkt, dass da was passiert“, sagt Dang Hong von der Gubener Wohnungsbaugesellschaft. Die Polen in Gubin hätten weniger Angst sich selbstständig zu machen als ihre deutschen Nachbarn. Sie hat Freunde in beiden Städten. Doch von den Deutschen sind viele weggezogen, weil sie keine Arbeit finden konnten. Für junge Menschen ist nicht viel los in Guben. Demnächst soll es immerhin ein Kino geben. Aber natürlich in Gubin, im neuen Einkaufszentrum der Polen.
Dang Hongs Chef Martin Reiher beobachtet, dass viele seiner polnischen Mieter ein Gewerbe anmelden wollen. Sie bevorzugen eine deutsche Adresse für ihre Firma, weil es ihnen das Leben bei den Behörden leichter macht. Und Deutsche würden dann eher bei ihnen einkaufen. Die polnischen Neu-Gubener wünschen sich eine bessere soziale Absicherung und eine bessere Gesundheitsversorgung als in Polen. Viele möchten außerdem, dass ihre Kinder einen deutschen Schulabschluss machen – mit der Adresse in Guben ist ein Schulplatz dort sicher.
Das Werben der Wohnungsgesellschaft hat Erfolg: Im Jahr 2017 haben Polen 12 Prozent der rund 250 Neuverträge der Wohnungsgesellschaft unterzeichnet. 2018 könnten es sogar 20 Prozent werden, schätzt Reiher. Etwas aber bremst den Trend noch, er nennt es den „Faktor Fünf“: eine Wohnung in Guben kostet fünfmal so viel wie in Gubin, ähnliches gilt bei den Löhnen. Obwohl die Wirtschaft in Polen wächst, ist ein Job in Deutschland für die meisten Polen deshalb noch immer Voraussetzung, um nach Guben zu ziehen, sagt Reiher.
Arbeitsplätze kann es in Guben künftig vor allem in der Pflege geben. Wegen der alternden Bevölkerung wird ein Pflegeplatz in einem der vier Gubener Altenheime in weniger als fünf Werktagen vergeben. Reiher hat beobachtet, dass sich viele Polen für Jobs in der Pflege interessieren.
Als der Bus schließlich kommt, sitzt außer dem Fahrer nur eine ältere Dame drin. Nach einigen Haltestellen steigen wir aus. Mit „Farb-TV und Telefon“ wirbt die Leuchtreklame einer Pension. Das Ehepaar, dem die Pension gehört, schafft es nur schwer die Treppe runter. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis sie die Pension schließen müssen. Vielleicht macht sich dann ein Pole darin selbständig.
Randnotizen ist ein Projekt des Jahrgangs 2016 der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Wir haben einen Blick an die Grenzen Deutschlands geworfen um zu erfahren, was unsere Nachbarn auf der anderen Seite umtreibt und bewegt. Aus jeder unserer Reisen ist eine Geschichte entstanden.
Wir waren beide zum ersten Mal so weit im Osten. Während unserer Recherche mussten wir unsere Gesprächspartner oft fragen, wen sie meinten, wenn sie von Wir sprachen. Spannend war dann, dass sie mit dem Wir ganz oft beide Seiten – Polen und Deutsche, Guben und Gubin – meinten.
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