Frankreich möchte mit einer EU-Richtlinie Lohndumping bekämpfen. Damit treffen die französischen Behörden allerdings auch deutsche Dienstleister, die nun ein halbes Dutzend Formulare ausfüllen müssen, bevor sie über die Grenze dürfen. Einige kehren auf halbem Weg um.
Stell dir vor, du bist Klempner im Saarland und es ruft dich ein Kunde aus Frankreich an, der fünf Kilometer hinter der Grenze lebt und dessen Küche unter Wasser steht.
Du schnappst dein Werkzeug, springst in den Wagen und fährst nach Frankreich. In Europa gibt es ja freien Grenzverkehr und Dienstleistungsfreiheit – du kannst überall hinfahren. Oder? Direkt hinter der Grenze hält ein französischer Polizist deinen Transporter an, weil er die deutschen Aufkleber auf dem Auto sieht, und fordert deine Entsendepapiere. Entsendepapiere? Davon hast du noch nie gehört. Der Polizist will deinen Arbeitsvertrag sehen, einen Nachweis für die Umsätze deines Arbeitgebers und einen Haufen weiterer Papiere – übersetzt auf Französisch. Sonst darfst du bis zu 2000 Euro Verwaltungsstrafe zahlen. Du erklärst dem Polizisten, dass du die Papiere nicht dabei hast, er legt daraufhin dein Auto still. Während du verdattert an der Grenze stehst, bläst dein Kunde schon mal die Schwimmflügel auf.
Randnotizen ist ein Projekt des Jahrgangs 2016 der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Wir haben einen Blick an die Grenzen Deutschlands geworfen um zu erfahren, was unsere Nachbarn auf der anderen Seite umtreibt und bewegt. Aus jeder unserer Reisen ist eine Geschichte entstanden.
Was sich anhört wie ein schlechter Scherz, ist in Frankreich Realität. Denn die sogenannte Entsenderichtlinie sorgt bei Unternehmen für kiloweise Papierkram – und an der Grenze für Chaos.
Seit 2015 müssen Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter in andere EU-Länder schicken, den dortigen Mindestlohn zahlen. Das EU-Gesetz soll Lohndumping unterbinden. Aufsehen erregt hatte zuvor ein polnischer Unternehmer, der seine Arbeiter nach Finnland schickte – aber nur den polnischen Mindestlohn zahlte.
Nun muss jeder Arbeitgeber, der seine Mitarbeiter in ein anderes EU-Land entsendet, nachweisen, dass er den dortigen Mindestlohn zahlt. An der deutsch-französischen Grenze ist die Regelung zum Bürokratie-Monstrum geraten, da Frankreich die EU-Regeln äußerst streng auslegt und kontrolliert. Deutsche Betriebe, die einen Mitarbeiter nach Frankreich entsenden wollen, müssen den Lohn des Mitarbeiters in einem französischen Webportal angeben. Und nicht nur das: Gehaltsdaten, Personalien und sogar Angaben über die Unterkunft der Arbeitnehmer müssen die Unternehmen auf Französisch übersetzen und hochladen.
Seit 1996 besteht die Regelung für den Grenzübertritt von Arbeitnehmern innerhalb der EU. So soll verhindert werden, dass Unternehmen aus anderen Ländern dauerhaft in diesem Land arbeiten und mit den heimischen Unternehmen konkurrieren. Es gilt das Arbeitsrecht des Staates, in dem die Angestellten arbeiten. Seit der Osterweiterung der EU 2004 klagen jedoch viele Firmen in Westeuropa über die Konkurrenz durch billige Arbeiter aus Osteuropa.
Das ärgert vor allem Betriebe, die sowieso mehr als den französischen Mindestlohn bezahlen und dies jetzt für jeden entsendeten Mitarbeiter dokumentieren sollen. Bei jedem Grenzübertritt müssen die Mitarbeiter Entsendebescheinigung, Arbeitsvertrag, Lohnnachweis, einen Nachweis der Krankenversicherung und ein gültiges Gesundheitszeugnis dabei haben. Wenn Mitarbeiter mehrmals ohne die Unterlagen erwischt werden, drohen dem Unternehmen Bußgelder bis zu 4.000 Euro – pro entsandtem Mitarbeiter.
Viele Unternehmen können oder wollen die strengen Vorgaben nicht erfüllen. Laut einer Umfrage der Industrie- und Handelskammer Saarland hat jedes dritte saarländische Unternehmen seine Tätigkeit in Frankreich reduziert. Vier Prozent der Unternehmen haben sich sogar komplett aus Frankreich zurückgezogen. Bei der Umfrage der IHK machten die Unternehmen ihrem Ärger Luft: „Diskriminierung deutscher Betriebe!”, „Katastrophe”, „Was hat das noch mit einem gemeinsamen Binnenmarkt zu tun?”
Freitagmorgen im Unternehmen Satherm in Saarwellingen, kurz vor der deutsch-französischen Grenze. Im Großraumbüro sitzen 30 Mitarbeiter mit Headsets und sprechen mit Kunden: Ein Potpourri aus Deutsch, Französisch und Englisch schwirrt durch den Raum. Der Dienstleister aus dem Saarland organisiert Ersatzteile. Die Mitarbeiter werden zu Kunden in Frankreich geschickt um sich defekte Maschinen anzusehen und zu entscheiden, welche Teile repariert oder ausgetauscht werden müssen. Im Notfall müssen die Mitarbeiter auch Reparateure vor Ort finden, falls der Maschinenhersteller zur Zeit keinen entsenden kann.
90 Prozent der Kunden kommen aus Frankreich. Wenn bei einem Kunden eine Maschine kaputt geht, ist Satherm das Bindeglied zum Maschinenhersteller, dessen Mitarbeiter oftmals kein Französisch sprechen. Satherm holt für die französischen Kunden Preise ein: Wie viel kostet die Reparatur, wie viel eine neue Maschine? „Wenn bei unseren Kunden Maschinen kaputt gehen, müssen wir sehr, sehr schnell handeln“, sagt Evelyn Andres, Assistentin der Geschäftsführung: „In der Autoindustrie kostet jede Minute, in der das Band stillsteht, 5000 Euro.“
Um Sozialdumping zu bekämpfen, änderte die EU die Richtlinie in den letzten Jahren mehrfach, zuletzt im Oktober 2017: Nach dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sollen Arbeitgeber ab Mitte 2018 mindestens einheimische Tariflöhne bezahlen, einschließlich aller Zuschläge wie Weihnachts-oder Urlaubsgeld. Zusätzlich sollen Entsendungen auf zwölf Monate begrenzt werden. Arbeitgeberverbände kritisieren die Richtlinie als Bürokratiemonster, EU-Politiker verweisen auf die Errungenschaften für Arbeitnehmer.
Die Entsenderichtlinien machen Satherm und seinen Kunden das Leben schwer. „Unsere Kunden sind verpflichtet zu prüfen, dass wir richtig entsendet haben. Sonst können auch sie mit einer Strafe belegt werden.“
Ein weiteres Problem ist für viele deutsche Betriebe das Thema Datenschutz: Wenn sich ein Mitarbeiter im französischen Portal anmeldet, kann er die Gehälter seiner Kollegen einsehen. „Ich finde das sehr grenzwertig“, ärgert sich Andres. „Unsere Mitarbeiter dürfen sich nicht selber anmelden, da sie sonst die Gehälter ihrer Kollegen und der Geschäftsführung einsehen können. Das sorgt für Zwietracht untereinander. Ich weiß nicht, wie viele Gedanken man sich da beim Online-Portal gemacht hat.“
Für Oliver Groll, Geschäftsführer International bei der IHK Saarbrücken, sind Probleme mit der Entsenderichtlinie alltäglich. Alle zwei Monate veranstaltet er Infoveranstaltungen, um überforderten deutschen Unternehmern die Entsendeformalitäten zu erklären. Mehrere hundert Beamte kontrollieren momentan im Dienste Frankreichs in der Grenzregion – und erwischen immer wieder entsandte Arbeitnehmer ohne Papiere. „Wir kriegen momentan einmal die Woche zu hören, dass es wieder so einen Fall gab. Die Leute werden dann auf dem Fuße nach Hause geschickt“, sagt Groll.
Viele deutsche Unternehmen wüssten nicht über die Regelung Bescheid. „Es kam schon öfter vor, dass Produktionsanlagen in Lothringen ausfallen, weil sich die Reparateure hier nicht trauen, über die Grenze zu fahren“, sagt Groll. „Dieses Einfach-mal-so über die Grenze funktioniert nicht mehr.“ Und auch Evelyn Andres sieht die Freizügigkeit in Gefahr: „Wir sind Europa: Es sollte einfach sein, grenzübergreifend zu arbeiten. Und dann werden solche bürokratischen Barrieren aufgebaut – das ärgert mich.“
Andere machen ein gutes Geschäft aus der Misere: Im Internet bieten Berater mittlerweile Intensivseminare zum Thema Entsendung an. Kostenpunkt: Mehr als 1000 Euro. Weil jeder Betrieb einen Ansprechpartner in Frankreich vorweisen muss, der ebenfalls Kopien der vertraulichen Dokumente vorzeigen kann, lassen sich Spezialisten nun dafür bezahlen, dass sie diesen Job übernehmen – sie kümmern sich um die Entsenderichtlinien und die damit verbundenen Probleme.
Für die Zukunft kann IHK-Experte Groll aber vorsichtig Entwarnung geben. Mit anderen deutschen Vereinigungen ist die IHK 2017 im französischen Sozialministerium aufgeschlagen und hat dort ihr Leid geklagt. Mit Erfolg: Bis April, das haben die französischen Behörden versprochen, soll zumindest eine Ausnahmeregelung die gröbsten Probleme beseitigen.
Aus Brüssel kommt allerdings schon neues Ungemach. Ab Mitte 2018 sollen Arbeitgeber weitere Zulagen anmelden – das bedeutet noch mehr Bürokratie an der deutsch-französischen Grenze.
Randnotizen ist ein Projekt des Jahrgangs 2016 der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Wir haben einen Blick an die Grenzen Deutschlands geworfen um zu erfahren, was unsere Nachbarn auf der anderen Seite umtreibt und bewegt. Aus jeder unserer Reisen ist eine Geschichte entstanden.
Seit 1996 besteht die Regelung für den Grenzübertritt von Arbeitnehmern innerhalb der EU. So soll verhindert werden, dass Unternehmen aus anderen Ländern dauerhaft in diesem Land arbeiten und mit den heimischen Unternehmen konkurrieren. Es gilt das Arbeitsrecht des Staates, in dem die Angestellten arbeiten. Seit der Osterweiterung der EU 2004 klagen jedoch viele Firmen in Westeuropa über die Konkurrenz durch billige Arbeiter aus Osteuropa.
Um Sozialdumping zu bekämpfen, änderte die EU die Richtlinie in den letzten Jahren mehrfach, zuletzt im Oktober 2017: Nach dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sollen Arbeitgeber ab Mitte 2018 mindestens einheimische Tariflöhne bezahlen, einschließlich aller Zuschläge wie Weihnachts-oder Urlaubsgeld. Zusätzlich sollen Entsendungen auf zwölf Monate begrenzt werden. Arbeitgeberverbände kritisieren die Richtlinie als Bürokratiemonster, EU-Politiker verweisen auf die Errungenschaften für Arbeitnehmer.
Als wir zum ersten Mal von den Entsenderichtlinien gehört hatten, dachten wir an ein langweiliges, bürokratisches Thema. Bei den Recherchen stellte sich aber dann immer mehr heraus, dass die Richtlinie ein einziges Dilemma ist: In ihrer Idee eigentlich gut – in der Ausführung aber mangelhaft. Wir waren vor allem davon überrascht, wie stark die Betriebe an der Grenze an den Folgen der Richtlinie litten und wie wenig Aufmerksamkeit diesem Thema trotzdem in den Medien geschenkt wurde.
Direkt hinter Aachen leben 76000 Belgier, deren Muttersprache deutsch ist. Ihr Sprachgebiet heißt Deutschsprachige Gemeinschaft und hat ein eigenes Parlament, das über Gesundheit, Bildung…
Die rechtspopulistische Dansk Folkeparti hat sich in Dänemark auf Landes- und Kommunalebene zum akzeptierten politischen Partner entwickelt. An der Grenze zu Deutschland sind die Rechten besonders stark.
Ein 11-jähriger Junge verschwindet aus einem Ferienlager direkt an der deutsch-niederländischen Grenze. Wenige Stunden später wird er tot aufgefunden – doch auch 20 Jahre nach der Tat…